Weil Nähe plötzlich nicht mehr zählt?

Msgr. Prof. Peter Schallenberg. Foto: Malteser

Liebe Malteserinnen und Malteser,

in dieser außergewöhnlichen und überaus ungewöhnlichen Situation möchte ich Ihnen ausdrücklich Mut machen und Zuversicht geben: Mut zu beherztem Helfen und Handeln in diesen schwierigen Zeiten und Zuversicht im Blick auf die vielen hilfsbedürftigen Menschen.

Außergewöhnlich und ungewöhnlich sind diese Wochen, ja wirklich: aus unseren Gewohnheiten sind wir ganz plötzlich durch die Corona-Pandemie herausgerissen, nicht nur beruflich sondern auch privat. Wir sind einerseits isoliert und auf Abstand gehalten, ohne gewohnte Umarmungen, Zuwendungen, körperliche Kontakte und sogar ohne einfaches und höfliches Händeschütteln. Hilfe durch Abstand - das ist das Gebot der Stunde, zu Hause, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz und bei der Arbeit selbst, die doch für uns Malteser immer eine Form der Zuwendung und der Nähe ist. "Weil Nähe zählt", so lautete bis zur Corona-Krise das selbstverständliche und geniale Motto der Malteser, bundesweit bekannt. Und jetzt? Weil Abstand zählt? Weil Distanz geschaffen werden muss? Hilfe durch Abstand und Distanzierung?

Ich meine: Auf keinen Fall! Weil Nähe zählt – jetzt erst recht und jetzt gerade! Nur mit anderen Mitteln, anders als bisher gewohnt, auch in Schutzkleidung und mit Masken, auch in Isolation und in Quarantäne, auch in Überstunden und Überforderung, auch in Zeiten der Corona-Krise. Das heißt: Jeder von uns kann überlegen, wie er innere Nähe zum Ehepartner, zu den Kindern, zu den Großeltern, zu den Arbeitskollegen, zu den Patienten und Hilfsbedürftigen herstellen will und kann. Durch ein Gebet im Herzen, durch ein gutes Wort, durch einen beschriebenen Zettel, durch eine für andere entzündete Kerze. Bei meiner Großmutter zu Hause brannte bis zu ihrem Tod immer eine Kerze vor dem Bild des in Russland im Zweiten Weltkrieg gefallenen Großvaters, ihres Mannes, und dadurch war er immer bei uns. Als Kind hat mich das immer sehr beeindruckt: Niemand ist endgültig auf Abstand, nur vorläufig nicht unmittelbar erreichbar. Erst wenn wir uns vergessen hätten, wären wir endgültig im Abseits und im Abstand gelandet! Und nicht zu denken, in welcher höllischen Ferne wir landen würden, hätte uns Gott je vergessen...

Viele Menschen, gerade Ältere und Pflegebedürftige, sitzen allein zu Haus oder im Pflegeheim. Viele sind in Quarantäne und Isolierung, um der Gesundheit willen. Der äußeren Gesundheit willen. Und was ist mit der inneren Gesundheit? Wie kann man gesund sein und bleiben oder wieder werden, wenn niemand kommt zum Sehen und Sprechen und Berühren? Viele sind in diesen Wochen ganz allein. Sind sie wirklich allein? Es liegt an uns, erfinderisch zu sein, um andere Menschen zu berühren durch einen Telefonanruf, durch einen Brief, durch ein Gebet, durch eine Kerze, durch Einkaufen und einfallsreiche Hilfe. Das Wort Quarantäne wurde bei der Pestepidemie 1374 in Venedig erfunden, hergeleitet vom lateinischen Wort "quadraginta" (vierzig), als die Reisenden auf den ankommenden Schiffen von den Behörden gezwungen wurden, in Anlehnung an Leviticus 12,8 vierzig Tage isoliert zu bleiben, um Ansteckung zu vermeiden. Im Buch Leviticus im Alten Testament heißt es, dass man nach der Geburt des Kindes vierzig Tage allein und nicht in der Öffentlichkeit sein soll. Damals war das eine medizinische und hygienische Regel, man wusste es nicht besser. Aber auch das Volk Israel war 40 Jahre in der Wüste beim Auszug aus dem gewohnten Ägypten und vor dem Einzug in das ungewohnte Kanaan, murrend und hadernd. Und Jesus selbst war 40 Tage und Nächte in der Wüste zu Beginn seines öffentlichen Wirkens und wurde dort vom Teufel in Versuchung geführt. Wer lange in Quarantäne ist, 40 Tage und mehr, unterliegt vielen versucherischen Einflüsterungen und Einfällen: Bin ich wirklich geliebt – oder nur toleriert? Habe ich wirklich Freunde – oder nur Kollegen? Ist es wirklich notwendig, dass ich lebe – oder nur nicht weiter störend? Gibt es Gott wirklich – oder ist er nur eine Erfindung aus vergangenen Kindertagen?

Es liegt an uns diesen Versuchungen mit Mut und Zuversicht entgegenzutreten, bei uns und bei anderen! Durch Zuwendung im Abstand, durch Nähe in Entfernung, durch Hilfe in außergewöhnlichen Zeiten. Und es liegt an uns, die Quarantäne und die vierzig Tage und die ungewohnte und außergewöhnliche Zeit auch zu nutzen, um sich und andere zu fragen: Was ist wirklich nötig und notwendig? Was und wer darf auf keinen Fall fehlen? Weil Nähe zählt... auch und gerade in der Krise!

Ihr Peter Schallenberg
Diözesanseelsorger der Malteser im Erzbistum Paderborn